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Freitag, Dezember 31, 2004

Nicht die Allmacht Gottes, sondern die Allmachtsvorstellungen des modernen Menschen werden durch solche Ereignisse in ihre Schranken gewiesen.
Wolfgang Huber zur Flutkatastrophe bei Spiegel Online

Montag, Dezember 27, 2004

Die Zeit 53/2004 über die Beichte.

Der Katholik Harald Schmidt liest Lk 2,1-21. In der taz. Und zwar aus der Lutherbibel von 1984. [via Hal Faber]

Martenstein mit einem bemerkenswerten Schluss: "Viele sagen ja zum Glauben, aber nein zur Kirche. Der Individualismus oder auch Hedonismus hat auf die Religion übergegriffen. Jeder bastelt sich privat sein Ding, nach dem religiösen Lustprinzip, und wenn Probleme auftauchen, trennt man sich halt, vom Partner wie vom jeweiligen Glauben. Dieser spirituelle Egotrip kommt mir, obwohl es mich als Ungläubigen eigentlich nichts angeht, ein bisschen zu bequem vor. Viele Linke sagen ja auch: Der Sozialismus ist eine wunderbare Idee, sie wurde lediglich schlecht ausgeführt. Das ist in etwa der gleiche Gedanke. Die Theorie kann gerettet werden, indem man so tut, als habe sie mit der Praxis wenig zu tun.

Nein, wenn ich an Gott glauben könnte, müsste ich auch in der Kirche sein. Zwar ist die Theologie sich unschlüssig, wieweit und ob überhaupt Gott sich für das Treiben der Menschen interessiert. Aber wenn ich an ihn glaube, dann muss er doch ein überindividuelles Prinzip sein, einer, der für meinen Nächsten genauso da ist wie für mich, eine gemeinschaftliche Angelegenheit der Menschen, eine Brücke. Falls das Gebot der Nächstenliebe gilt, sollte ich nicht nur an meinem eigenen Seelenheil interessiert sein. Hauptsache, Gott spricht mit mir – ihr anderen könnt ruhig in der Hölle schmoren: So klingt, auf boshafte Weise zugespitzt, die Devise der kirchenfernen Individualchristen.

Es ist erstaunlich, wie viele Menschen jeden Kontakt zum Glauben verloren haben, nie oder höchstens an Weihnachten und zum Heiraten in die Kirche gehen. Trotzdem schrecken sie davor zurück, den letzten Schritt zu tun und sich als ungläubig zu bezeichnen. Eine vage Angst vor Strafe spielt garantiert häufig eine Rolle, in anderen Fällen handelt es sich um lauwarme Unentschiedenheit. Dieses Laue finde ich nicht gut, das erinnert mich an nikotinarme Zigaretten und Low-Fat-Jogurt, da ist mir, wenn ich schon rauche, ein Zigarillo und ein knallharter Traditionskatholik lieber. Der Ungläubige nimmt den Glauben ernster als der lau Gläubige.

Dabei bin ich selbst lau. Bei uns Ungläubigen gibt es zwei grundverschiedene Antworten auf die Glaubensfrage. Die eine, knallharte, lautet: Atheismus. Die andere, etwas bescheidenere und pragmatischere Antwort gibt der Agnostizismus. Agnostiker bestreiten keineswegs, dass es ein höheres Wesen geben könnte. Sie sagen lediglich: Gott zeigt sich nicht, er gibt sich mir nicht zu erkennen, deswegen bin ich, als vernunftgesteuertes Wesen, nicht in der Lage, an ihn zu glauben. Das menschliche Wissen ist gering. Möglich ist vieles. Aber bis auf weiteres halte ich mich an das, was ich erkennen kann, und da sehe ich keinen Gott.

Streiten wir nicht. Es ist das Fest des Friedens, und zu Lebzeiten liegt uns die Erde näher als der Himmel. Auch die meisten Ungläubigen feiern alle Jahre Weihnachten, mit dem vollen Programm. Sie singen die Lieder, sie zünden die Kerzen an, sie freuen sich, und manchmal horchen sie in sich hinein."

Und das Gegenstück von Harald Martenstein: Ich glaube nicht

Sabine Rückert gibt (in der Zeit 53/2004) eine Antwort auf die Gretchenfrage: Ich glaube


"Wir haben schon lang nichts mehr von ihm gehört"
Illustration: Martin Sowa für DIE ZEIT

Bernd Ulrich in der Zeit 53/2004 ("Zumutung des Glaubens"): Natürlich kommt das Christentum ohne Zumutungen nicht aus. Vielmehr ist es von Anfang an als eine solche gedacht gewesen. Dieser Glaube ist eingespannt in Widersprüche: der Gott, der einer ist und drei, allmächtig ist und Mensch wird, der stirbt, um dann wieder zu leben; die ungeheure Zumutung der Feindesliebe; der Mensch, der von Jesu gerettet wurde und doch ständig in voller Freiheit zur Schuld leben muss.

Mittwoch, Dezember 22, 2004

Und nach dem Einstieg nun auch noch der Schluss: "Was Drewermann und Küng für die Amtskirche, ist Klaus Berger für die Gemeinde der Betroffenen und die Theologen von der weichspülenden Observanz. Berger hat sichtlich Lust auf die Rolle des Aufmischers, und er ist aufmerksam darauf bedacht, keinen Fettnapf der theological correctness auszulassen. Dabei verlässt er aber nie im Ernst den Garten der Vernunft. Es macht ihm Spaß, auf der Mauer zu sitzen und dem Publikum Reden zu halten über die Wildnis außerhalb des Gartens und die verlockenden Fernen, damit seine Zuhörer den Garten nicht für die Welt halten.

Zwar dient das dem intellektuellen Vergnügen des Lesers, aber es führt auch zu einem völlig unnötigen Selbstmissverständnis. Berger hat den falschen Feind ausgemacht. Ist wirklich die Aufklärung am Siechtum des Christentums schuld? Das Gegenteil ist richtig. Gerade die Herausforderungen durch die Buchreligion des Islams zeigt, dass das Christentum die Religion der Moderne ist. Die Christen können sich eine harte Bibelkritik leisten. Denn das Wort ist Fleisch geworden."

Eckhard Nordhofen rezensiert Klaus Berger ("Jesus"): "Seit es ihn gibt, hat der Monotheismus ein Medienproblem. Wie kann ein Gott, der kein Ding in der Welt, vielmehr der Schöpfer aller Ding und der mystische Hintergrund des Seins ist, präsent gemacht werden? Die Frage nach dem Medium des Monotheismus wird durch die aktuelle Konfrontation von Christentum und Islam neu angeschärft. Die Antwort heißt Weihnachten." Großartiger Einstieg. (Den Rest habe ich noch nicht gelesen.) [via Perlentaucher]

Dienstag, Dezember 21, 2004

Für den musikalischen Hausgebrauch zum Feste: ein vierstimmiger Satz des Adeste fideles.

Freitag, Dezember 17, 2004

Jens Jessen in der Zeit 52/2004: "Vor Jahren hat die Berliner Zeitung mal einen ganzen Schwung angestammter Abonnenten im Osten der Stadt verloren, weil sie ihnen frohe Weihnachten gewünscht hatte. Die Leser, die noch in der marxistisch-leninistischen Tradition des wissenschaftlichen Atheismus aufgewachsen waren, fühlten sich verhöhnt. Es ist nämlich keineswegs so, dass Atheisten Menschen sind, die sich dem Religiösen gegenüber gleichgültig verhalten, sodass der Wunsch fröhlicher Weihnachten bei ihnen verpufft, während er den Christen erfreut. Man muss sich den Atheismus im Gegenteil als besonders kämpferische Religion vorstellen, die peinliche Rücksichtnahme verlangt." [via
credo ut intelligam]

Eugene Edwards im Interview mit der taz über seinen Song Down In Yon Forest: "In dem Song singe ich: 'Roma, Roma - where is my country?' Es ist die Frage nach der spirituellen Heimat am Beispiel des Volks der Heimatlosen - der Roma. Ich selbst verspüre dieses Gefühl der Heimatlosigkeit in mir. Nirgendwo auf dieser Erde ist mein Zuhause. Das ist zugleich eines der zentralen Themen der Bibel: Wir sind alle Fremde auf dieser Welt, unsere Heimat ist nicht hier, sondern im Himmel - auf der Erde sind wir obdachlos." [via Perlentaucher]

O Weisheit,
hervorgegangen aus dem Munde des Höchsten,
die Welt umspannst du von einem Ende zum andern,
in Kraft und Milde ordnest du alles:
Komm und lehre uns den Weg der Einsicht!


Magnificat-Antiphon der Vesper vom 17. Dezember

[via Veni, Domine Iesu!]

Danke, Erich! Willkommen zurück.

Donnerstag, Dezember 16, 2004

Nietzsche ist tot. So überschreibt Chefredakteur Stefan Baron sein Editorial der jüngsten Wirtschaftswoche (52/2004), die Albrecht Dürers Betende Hände auf den Titel hebt und sich ausführlich mit Religion beschäftigt.


Wirtschaftswoche 52/2004

Habe gerade meine Leseliste aktualisiert. Ziemlich viel Küng im Moment. Warum eigentlich hat er damals die Lehrerlaubnis verloren?

Die Tagespost referiert einen Vortrag von Robert Spaemann über eine zeitgemäße (=nietzsche-resistente) Form des Gottesbeweises. Cool! [via credo ut intelligam]

Adam Boniecki, Chefredakteur der polnisch-katholischen Zeitung "Tygodnik Powszechny" und Priester, im Interview mit Spiegel Online: "Vereinfachend gesagt teilt sich die Kirche in zwei Gruppen. Die einen sehen in ihr einen belagerten Turm, der Liberalismus, Säkularismus und Sexualismus trotzen muss. Kirchenkritik ist für sie gleichbedeutend mit Verrat, der dem Gegner Angriffsmaterial liefert. Die zweite Gruppe besteht aus Leuten, die sich bewusst sind, dass wir in der Welt leben und die Sprache der Welt benutzen müssen. Diese Denkweise wird vom Erzbischof von Lublin repräsentiert, einem Autor unserer Zeitung."

Mittwoch, Dezember 15, 2004

Die Umstände der Predigt Thomas Gottschalks in der Nürnberger Kirche St. Elisabeth haben Erzbischof Ludwig Schick "nicht sehr erfreut", berichtet Spiegel Online: "Es könne nicht angehen, dass Sicherheitsleute des ZDF Gläubigen und Fotografen den Zutritt zur Kirche verwehrten." Seine Ansprache hingegen scheint nicht auf Missfallen gestoßen zu sein: So bekannte der frühere Ministrant laut dpa, "dass er in seinem Leben eigentlich immer Diener Gottes sein wollte. 'In dieser Rolle habe ich aber ziemlich kläglich versagt', meinte er. 'Dass ich dennoch mit dem Heiligen Geist gesegnet bin, lese ich immer nach meiner Show in den Montagszeitungen'. Der Katholik räumte auch ein, 'schon mal für gute Einschaltquoten gebetet zu haben'. Insgesamt aber sei er im Glauben eher schwach. 'Oft ist mir, bei dem, was ich mache, am Ende nur der Erfolg wichtig, ohne danach zu fragen, ob ich damit etwas Vernünftiges gemacht habe', gab sich Gottschalk reumütig. Dennoch liefere ihm der Glaube ein Stück des Fundaments, das ihm die Sicherheit und Festigkeit gebe, die er gerade in seinem Beruf brauche. Er kenne viele Show-Größen, die Drogen nähmen statt zu beten."

Ich erzähle Geschichten nicht, um etwas zu beweisen, sondern um etwas nachträglich zu überprüfen.

Edgar Reitz im Interview mit der taz [via Perlentaucher]

Montag, Dezember 13, 2004

Niemals zuvor jedenfalls, außer in den Jahren des Faschismus, gab es in diesem Staat eine Gesellschaft, in der das Heidentum die Kultur stärker dominierte als heute. Inzwischen haben wir einen Zustand erreicht, den man wohl als spirituelle Unterernährung, wenn nicht gar als religiösen Notstand bezeichnen muss. Viele Christen fühlen sich bereits wieder, nach einem Jesus-Wort, wie "Schafe unter die Wölfe geschickt". Und betrachtet man den permanenten Großangriff auf die Überlieferung der Evangelien, ist man in der Tat erinnert an die Passion in der Via Dolorosa. Der Hintergrund der Kreuzigung Christi heute wie damals: Man glaubt IHM nicht.

Peter Seewald: Hektisch auf der Suche - aber nach was? in: Chrismon, Dezember 2004, online bei kath.net [via Credo ut intelligam]

Ein Licht, das die Heiden erleuchtet (Lk 2,32) - betet die Kirche und mit ihr auch ich jeden Tag in der Komplet.

Liturgisch-musikalisches vom Kirchenchor der griechisch-katholischen Pfarrgemeinde in Bratislava. [via fonolog]

Thomas Hermann zeigt in der NZZ am Beispiel dreier Romane, wie christliche Feiertage in der Literatur verarbeitet werden. [via Perlentaucher]

Die NZZ dokumentiert die Dankesrede von Jürgen Habermas zur Verleihung des Kyoto-Preises (im Tagesspiegel schon in Auszügen veröffentlicht). [via Perlentaucher]

Donnerstag, Dezember 09, 2004

Und noch eine Notiz aus dem stern (AP): "Schon länger beklagen Experten, dass der Grad der sexuellen Aufklärung unter Jugendlichen deutlich nachlässt. 2003 verzeichneten die Statistiker einen Anstieg der Abtreibungen bei den unter 18-Jährigen um 2,7 Prozent auf insgesamt 7.645 Fälle. Besonders hoch war diesmal die Zunahme bei den älteren Minderjährigen, also den 15- bis 18-Jährigen: Hier wurde eine Zunahme von 3,7 Prozent verzeichnet. Bei den unter 15-Jährigen sank die Zahl dagegen von 761 Fällen im Vorjahr auf 715."

Keine Sorge, ich fange jetzt nicht an, auch noch dieses Thema zu covern, aber ein wenig Statistik zum Thema Abtreibung (aus der Welt vom 17.03.04) muss sein.

Irshad Manji, Kolumnistin der New York Times, in der Welt: "Für viele Europäer, die noch immer lebendige Erinnerungen an die intellektuelle Unterdrückung durch die katholische Kirche haben, ist Religion eine irrationale Macht. [...] Anders in Amerika. Weil es eine Gesellschaft von Einwanderern ist, die religiöse Toleranz suchten, sieht dort niemand Religion als irrational - auch wenn das, was manche Leute damit anfangen, irrational ist, zum Beispiel Terror. [...] Die massenhafte Einwanderung von Muslimen bringt den Glauben zurück in die Öffentlichkeit und schafft so eine post-aufklärerische Modernität in Westeuropa. Diese Wiederkehr der Religion bedroht den säkularen Humanismus, die Orthodoxie, die seit der Französischen Revolution alles dominiert hat. [...] Ihr Säkularismus nimmt manchmal eifernde, missionarische - und darf ich es sagen - religiöse Züge an. Womit wir wieder bei der Frage wären, warum ich, eine unabhängige Frau, mich mit dem Islam abgebe. Die Religion verschafft einem eine Reihe von Werten, darunter auch der Disziplin, die ein Gegengewicht zum Materialismus des Westens darstellen. Ich hätte auch ein Renegat werden und durch die Einkaufszentren rennen können, um nach Erfüllung zu suchen. Ich habe es nicht getan. Die Religion setzt etwas dagegen. Sie erzeugt eine Spannung, die das Denken herausfordert und einen dagegen imprägniert, selbst zum Fundamentalisten zu werden. Der heutige Islam hat schwere Defizite, und das zu sagen macht mich in den Augen zahlloser Muslime zur Gotteslästerin. C'est la vie. Wenn sie sich von ihren Gefühlen nicht überwältigen lassen, werden sie die Tatsache würdigen, daß die Religion - gerade für die Rationalisten unter uns - ein Segen ist." [via credo ut intelligam]

Mittwoch, Dezember 08, 2004

Jürgen Kaube analysiert scharfsinnig die neuen Pisa-Ergebnisse (in der FAZ): "Hätte man nur drei Sätze, um die Ergebnisse der jetzt veröffentlichten Pisa-Studie 2003 zusammenzufassen, so müßten sie lauten: Es gibt Familien. Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, alle unglücklichen Familien aber sind auf länderspezifische Weise unglücklich. Und: Wir stehen vor einem Desaster sowohl der deutschen Einwanderungspolitik wie des Umganges mit den Unterschichten in diesem Land." [via Perlentaucher]

Dienstag, Dezember 07, 2004

Gero von Randow hält die Mathematik für eine Geisteswissenschaft und schreibt in der Zeit: "Was ist mit unserem Mathematikunterricht los? Er ist unfrei. Das Wesen der Mathematik dagegen ist die Freiheit." Schön gesagt.

Der in Ankara geborene und in Berlin lebende Schriftsteller und Publizist Zafer Senocak in der Welt über die Krise des heutigen Islam: "Dieses Bild ist das Ergebnis einer Jahrhunderte alten Krise, in der das kreative und zeitgemäße Lesen der Quellen versäumt oder als Häresie verfolgt worden ist. Diese Krise kann nur überwunden werden durch einen radikalen Bruch mit der Tradition und ihren erstarrten Methoden und Sichtweisen. Fragen sind zu stellen an das Menschenbild, das von dieser Tradition überliefert wird, an das Verhältnis der Geschlechter, an das Verhältnis zu Andersgläubigen. Gemäß der islamischen Gesetzgebung, der Scharia, haben Atheisten in der islamischen Welt kein Lebensrecht. Muslimen, die ihre Religion aufgeben, droht die Todesstrafe. Mit solchen Sanktionen stellt sich jeder Glaube, jede Ideologie ins Abseits der menschlichen Zivilisation. Eine Reform in den theologischen Fakultäten ist unumgänglich. Die Methoden moderner Wissenschaften wie Linguistik, Psychoanalyse und Soziologie müssen in dieses Studium Eingang finden. Eine historisch-kritische Betrachtung von sakralen Quellen wie dem Koran müßte die Grundlage von Forschung und Lehre sein." [via Perlentaucher]

Hasenhüttl in der taz. O tempora, o mores! [via Perlentaucher]

Die Frankfurter Rundschau über religiös motivierte Konfliktlagen in Neukölln: "Wir haben hier ein Problem." Eines, das ganz unmittelbar mit einem Thema zusammen hängt, das noch vor wenigen Jahren auch im Rollberg keines war: dem Glauben.

Niemand in der Siedlung weiß genau, wie es dazu kam. Klar ist jedoch, das bei "Madonna" vor wenigen Jahren plötzlich das Wort "haram" - sündig - die Runde machte. Ein Mädchen ohne Kopftuch: haram. Gummibärchen mit Gelatine: haram. Die Regeln des Ramadan nicht befolgen: haram. Eine Entwicklung, die bizarre Blüten treibt: Vor einem Monat weigerten sich plötzlich zwei achtjährige arabische Mädchen, mit der letzten verbliebenen Blondine bei "Madonna" zu spielen - Begründung: Die Deutsche sei sündig und somit der Hölle geweiht. Gabriele Heinemann wurde derweil schon mehrfach als "Nutte" beschimpft - weil sie sich erdreistet, ihrer weiblichen Klientel die Selbständigkeit zu predigen.

"Religion wird für die Leute hier immer wichtiger", sagt auch die Islamwissenschaftlerin Andrea Schwendner, die in der Diakonie-Beratungsstelle "Al-Muntada" arbeitet. Noch Anfang der 90er Jahre habe kaum eine moslemische Frau in Neukölln ein Kopftuch getragen - heute ein fast undenkbarer Zustand. Mögliche Gründe dafür gebe es viele: die iranische Revolution, die palästinensische Intifada und natürlich der 11. September 2001, von der "Koalition der Willigen" zum Auftakt eines weltweiten Glaubenskrieges stilisiert. Dazu komme die deutsche Dauerwirtschaftskrise mit fehlenden Lehrstellen, grassierender Arbeitslosigkeit, kollektiver Depression - ein Zustand, der sich in weiten Teilen Neuköllns, wo überdurchschnittlich viele von Sozialhilfe leben, trefflich beobachten lässt.

"Sie müssen verstehen", sagt Andrea Schwendner, "für die Leute hier endet die Welt am Hermannplatz". Die durchschnittliche deutsche Leitkultur, das sei aus Sicht des durchschnittlichen Zuwanderers im Rollberg: Perspektivlosigkeit, Arbeitslosigkeit, zerrüttete Familien, Gewalt, Alkoholismus. "Wenn dann gesagt wird: Nehmen die Ausländer auch unsere Werte an - dann kann ich nur fragen: Ja welche Werte denn?" Insofern dürfe man sich nicht wundern, wenn ein Imam, wie kürzlich in der Kreuzberger Mevlana-Moschee, über "stinkende Deutsche" lästere. "So was hört man hier öfter", sagt auch "Madonna"-Leiterin Heinemann. Desillusionierung mache nun einmal "anfälliger für Ideologie".

Deswegen sieht man seit geraumer Zeit auch immer wieder Werber aus den etlichen Neuköllner Moscheen durch den Rollberg laufen, wie Handelsvertreter, nur, dass ihre Ware Allah heißt. Deren Botschaft laute: Ihr habt keine Chance, die Deutschen wollen euch nicht haben, kommt zu uns. "Da sind sie wichtig, hier sind sie nix", sagt Gabriele Heinemann, die mit Sorge betrachtet, wie ihre Mädchen zunehmend eingeschüchtert werden, wenn sie denn überhaupt noch die Türen des Sündenpfuhls "Madonna" durchschreiten. Es drohe ein Staffellauf aus Frust, Radikalisierung und Gewalt. "Wir müssen aufpassen, dass wir uns hier keine Slumbevölkerung heranziehen."

Nicht, dass es in Neukölln keine Versuche gäbe, den Trend zu stoppen und vor allem den jungen Muslimen neue Perspektiven zu bieten. Im Arabischen Kulturinstitut etwa sitzt Nazar Mahmood, ein untersetzter Herr mit rotem Karo-Pullover und erläutert detailreich die diversen Integrationsprojekte, die sein Verein in den vergangenen sechs Jahren angestoßen hat. Er wird dafür angefeindet, in einem anonymen Rundbrief ist er als Verweser der arabischen Kultur beschimpft worden. Mahmood aber sagt trotzig: "Ich gebe nicht auf." Ihn interessiert nicht das Kopftuch, er kämpft dafür, dass sich darunter etwas tut. "Das ist mein Land", sagt der gebürtige Iraker, er will es nicht denen überlassen, die es zu spalten trachten - er meint damit gleichermaßen seine Glaubensbrüder und die Multi-Kulti-Verächter auf der deutscher Seite.
[via Schockwellenreiter]

Das Schandmännchen passend zum gestrigen Gedenktag: "Der Heilige Nikolaus (ca. 280 bis ca. 350) war Metropolit von Myra, geboren in Patara (Lykien) und ist nach heutiger Auffassung Türke. Und wenn es nach der Union ginge, dürfte der Nikolaus erst dann in unser Haus kommen, wenn er zuvor bei seinen Eiern auf's Grundgesetz geschworen hätte." [via IT&W]

Montag, Dezember 06, 2004

Hinführung zum Gebet (aus Jürgen Kuhlmann: Heilswahrheit, nicht Begriffskunst): "Der Knabe schon betet zum Gott seiner Väter. Er hat von den Großtaten des geschichtsmächtigen Herrn gehört. Beim ersten Tempelbesuch mag ihm aufgegangen sein, wie strahlend herrlich Jahwe ist. Zusammen mit anderen Betern rezitiert er die alten Psalmen und erlebt, wie der gewaltige Jemand, zu dem er spricht, wirklich da ist, ihm zuhört, ja antwortet auf eine zugleich unverkennbare und unbeschreibliche Weise. In solchen Augenblicken weiß Johannes (wenngleich er es nicht so philosophisch ausgedrückt hätte): ich befinde mich der absoluten Wirklichkeit gegenüber."

Jürgen Kuhlmann in seinem Christlichen Ideenkorb: "Seit ich als kleines Kind, in sonnigem Zimmer mit einem gläsernen Karaffen-Verschluß spielend, plötzlich einen fröhlich bunten Farbfleck an der Wand tanzen sah, ist die Idee einer verborgenen Beziehungsfülle im scheinbar rein weißen Sinnlicht mir vertraut. Wer die Dreifaltigkeit leugnet, hat insofern recht, als die Sonne nicht bunt strahlt sondern rein weiß. Und niemand ist verpflichtet, ein Prisma zu haben."

Dan Brown hat mit einem antikatholischen Unterhaltungsroman eine ganze Industrie in Gang gebracht. Aber Muslime riskieren ihr Leben, wenn sie grundsätzliche Kritik an ihrer Religion üben. Ayaan Hirsi Ali bemerkte vor zwei Jahren, nach modernen Maßstäben sei Mohammed als pädophil zu bezeichnen, weil er ein neunjähriges Mädchen zur Frau nahm. Wohlgemerkt, sie sagte: "nach modernen Maßstäben". Seither muß sie sich von Bodyguards schützen lassen. Ich bezweifle, daß Dan Brown untergetaucht ist und um sein Leben fürchten muß, weil orthodoxe Katholiken einen Preis auf seinen Kopf ausgesetzt haben. Anders gesagt: Es geht um die Freiheit der Religionskritik, und solange der Islam, so unterschiedlich er auch von Land zu Land praktiziert wird, sie nicht zugestehen kann, bleiben die Völker, deren Wertesystem auf dieser Religion gründet, von der Modernität ausgeklammert.

Leon de Winter in seinem in der Welt geführten Holländischen Tagebuch [via Perlentaucher]

Freitag, Dezember 03, 2004

Friedrich Wilhelm Graf heute im Feuilleton der NZZ unter der Überschrift Die Vervielfältigung Gottes über den Markt religiöser Möglichkeiten in Amerika: "Protestantische main line churches mit einem Wischiwaschigott haben in den letzten dreissig Jahren zunehmend an Glaubensmarktanteilen verloren. Auch bei den Katholiken sind die Harten, dogmatisch Entschiedenen die Gewinner. Auf die Pädophilie-Skandale hat die katholische Bischofskonferenz der USA soeben mit einer Moralisierungsoffensive reagiert. Angesichts der schnell wachsenden Zahl von Scheidungen bei kirchlich getrauten Katholiken werden demonstrativ die sakramentale Heiligkeit und Unauflöslichkeit der Ehe betont und Ehen gleichgeschlechtlicher Partner scharf verurteilt.

Man benötige wieder eine klare corporate identity, betonen die theologischen Marketingexperten eines neuen Kampfkatholizismus. In der Tat sind viele enttäuschte Katholiken zu charismatisch geprägten Pfingstkirchen übergewechselt, in denen harte Askese gelebt und innerweltlicher Erfolg prämiert wird. Über genaue Zahlen streiten die Experten. Aber immer mehr amerikanische Bürger gehören einer anderen Religionsgemeinschaft als bei ihrer Geburt an. Die ausgeprägte Konversionsbereitschaft verstärkt den Druck auf die konkurrierenden Anbieter, als effiziente, kundennahe Religionsdienstleister zu agieren."

Donnerstag, Dezember 02, 2004

Jochen Scherzer ist der Meinung, dass jetzt kein drittes Vaticanum nötig ist, sondern der Schuh ganz woanders drückt.

"Der Priestermangel ist nicht mehr das Problem der deutschsprachigen Kirche am Beginn des dritten Jahrtausends. Ihr Problem ist sicherlich zu einem großen Teil die mangelnde Identifikation der Gläubigen mit der Botschaft Jesu und der daraus erwachsenden alltäglichen Lebensgestaltung. Wer sich nur auf Strukturen und Konzepte verlässt, der wird bald vor leeren Kirchenbänken predigen, selbst wenn er verheiratet ist. Diese neue Innerlichkeit kann aber kein Konzil, keine Zölibatsabschaffung und kein neues Pastoralkonzept bringen. Nicht der akute Priestermangel, sondern der akuten Glaubensmangel zwingt zu einem Umdenkprozess."

Der Vatikan macht sich wieder einmal unbeliebt. Zum Weltaidstag erinnert ein Schreiben des Präsidenten des Päpstlichen Rates für die Pastoral im Krankendienst an die katholische Sexualethik. "Nur Keuschheit kann Aids verhindern", fasst Spiegel Online das Papier zusammen. Und zitiert wie folgt: Eine "Immunschwäche der moralischen und spirituellen Werte" sei an der Ausbreitung von Aids schuld. Pflichtschuldig gibt auch Guido Westerwelle seinen Dissens zu Protokoll.