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Donnerstag, Juni 23, 2005

Schrift und Tradition

Das Verhältnis von Schrift, Überlieferung, lehramtlicher Auslegung des Glaubens und historisch-kritischer Exegese ist ja nun wahrlich kein neues Thema. Einige aufschlussreiche Überlegungen finden sich in einer Notifikation der Kongregation für die Glaubenslehre bezüglich einiger Veröffentlichungen von Professor Dr. Reinhard Meßner aus dem Jahr 2000.
Der Verfasser ist sich der Problematik des „sola scriptura“, wie es in der Reformationszeit formuliert wurde, wohl bewußt. Er anerkennt, daß die «Tradition ursprünglicher ist als die Schrift und die Schrift Teil der Tradition» (Seite 13). Aber er ist gleichzeitig überzeugt, daß alle wirkliche apostolische Tradition in der Schrift gesammelt ist und daß daher die Schrift als «nicht hinterfragbare Norm… kritische Instanz jeglicher weiteren Tradition» ist (Seite 14). «Tradition ist somit die immer neu gesprochene Verwirklichung des Kerygmas, das in ein für allemal gültiger Weise in der Schrift vorliegt» (Seite 16). Bei dieser Reduzierung der Tradition auf die kerygmatische Vergegenwärtigung der Schrift «unter den jeweiligen Denkvoraussetzungen und Lebensbedingungen» (Seite 14) ist es durchaus folgerichtig, wenn Meßner erklärt: «Das „sola scriptura” als unaufgebbarer Bestandteil des „reformatorischen Propriums” scheint mir in der skizzierten Auffassung gewahrt» (Seite 14). Es scheint in der Tat gewahrt, nicht gewahrt „scheint” jedoch die Lehre des Konzils von Trient und des Vaticanum II (Dei Verbum) über Schrift und Tradition. Meßner ist sich selber der Gefahr bewußt, daß der «Glaube dem jeweiligen Stand der theologischen Wissenschaft» (Seite 15) ausgeliefert werden könnte und daß dies vermieden werden muß. Faktisch jedoch führt seine Auffassung unvermeidlich genau zu diesem Ergebnis, denn für die Auslegung der Schrift bleibt schließlich keine andere Instanz als die wissenschaftliche Exegese. Er selber sagt dazu: «Im Konfliktsfalle ist zweifellos immer die Tradition bzw. die Theologie nach der Schrift zu korrigieren, nicht die Schrift im Licht einer späteren Tradition (oder lehramtlichen Entscheidung) zu interpretieren; letzteres würde zu einem verderblichen Dogmatismus führen» (Seite 16). Hier fällt auf, daß durch die Kopula «beziehungsweise» Tradition und Theologie gleichgesetzt oder jedenfalls auf die gleiche Stufe gestellt werden; Tradition figuriert nur als «spätere Tradition» und «lehramtliche Entscheidung» wird wiederum durch «oder» auf eine Stufe mit «späteren Traditionen» gestellt, so daß der Gehorsam diesen gegenüber wie überhaupt das Hören auf die Tradition zu verderblichem Dogmatismus führt. Es ist nicht zu sehen, wie bei dieser Einstufung von Tradition und Lehramt die Schrift anders Instanz sein könnte als durch die wissenschaftliche Exegese, die damit zur letzten Autorität erhoben wird – entgegen der erklärten Intention des Verfassers. [...]

Die Konsequenzen dieser Sichtweise von Schrift, Tradition und Lehramt werden in den Grundlegungsfragen des eucharistischen Glaubens deutlich. Daß die Tradition inhaltlich nichts verbürgen kann und uns daher den jeweiligen historischen Hypothesen überläßt, wird sichtbar, wenn Meßner über den Ursprung der Eucharistie sagt: «Was uns überliefert ist, spiegelt letztlich die katechetische Praxis der Gemeinden. Es ist also nicht möglich, eine Theologie der Eucharistie aus einem absoluten Stiftungswillen Jesu abzuleiten, der dann jede liturgische Tradition normiert» (Seite 17). Was Jesus selber wirklich wollte, wissen wir also nicht, und auf eine Einsetzung der Eucharistie durch Jesus können wir nach dieser Darstellung nicht rekurrieren. Meßner greift daher für die frühe Zeit der Kirche mit leichten Modifikationen auf die bekannte These von H. Lietzmann (Messe und Herrenmahl. 1926) zurück und glaubt für diese Periode zwei unterschiedliche Typen von «Eucharistie» feststellen zu können: zum einen «vor allem eschatologisch ausgerichtete Mahlzeiten» (im Sinn von Didache 9 und 10) und «eine liturgische Feier, die wesentlich an das Abschiedsmahl Jesu anknüpft» (Seite 27). Ausdrücklich sagt er, daß «vom urchristlichen „Brotbrechen” keine direkte Linie zu unserer Eucharistiefeier führt» (Seite 32). Zwei Verbindungen zwischen dem urchristlichen «Herrenmahl» und der Eucharistie der katholischen Kirche sieht er allerdings: «die eschatologische Ausrichtung… und die Gemeinschaft (Koinonia)…» (Seite 33). Nur das könnte man demgemäß als bis in die Frühzeit zurückreichenden wesentlichen Kern der «Eucharistie» ansehen.

Bei solchen –heute weit verbreiteten– Auffassungen wird sichtbar, daß das neue „sola scriptura” nicht die Normativität der Schrift verbürgt, die ausdrücklich in den vier überlieferten Einsetzungsberichten davon spricht, daß der Herr in der Nacht vor dem Verrat den Seinen in Brot und Wein sich selbst –Leib und Blut– schenkte und in diesen Gaben den neuen Bund begründete. Die Hypothesen über die Entstehung der Texte paralysieren das Bibelwort als solches. Umgekehrt wird sichtbar, daß Tradition in ihrem von der Kirche definierten Sinn nicht die Übermächtigung der Schrift durch spätere Lehren und Gebräuche bedeutet, sondern im Gegenteil die Gewähr dafür darstellt, daß das Schriftwort in seinem Anspruch stehenbleibt.

Im zweiten Jahrhundert erkennt Meßner dann eine «tiefe Zäsur», den «Übergang vom fundamental charismatischen, prophetischen, zentral von der Naherwartung bestimmten Christentum zur „frühkatholischen Kirche”» (Seite 17). Nun erfolgt nach Meßner ein liturgischer «Paradigmenwechsel vom urchristlichen Paradigma „Herrenmahl” zum altchristlichen Paradigma „Messe”» (Seite 42). Mit dem Schwinden der Naherwartung entsteht in der Mitte des zweiten Jahrhunderts –so erklärt uns Messner– etwas Neues, die frühkatholische Kirche, deren wesentliche Inhalte so beschrieben werden: «Es bildet sich langsam der Kanon des Neuen Testaments, es entsteht ein kirchliches Amt, das in dieser Form der Urchristenheit nicht eigen war, zur Wahrung der apostolischen Paradosis, und – das Verständnis des Gottesdienstes wandelt sich» (Seite 42). Diese Thesen sind nicht neu, wenn sie auch von der klassischen Beschreibung der konstitutiven Elemente des «Frühkatholizismus» durch Harnack, der regula fidei, Kanon und Bischofsamt zusammenordnet, durch die Herausstellung des liturgischen «Paradigmenwechsels» charakteristisch abweicht. Neu ist allenfalls, daß diese klassische Vision protestantischer Dogmengeschichtsschreibung hier als katholische Theologie vorgetragen und mit einem tiefgehenden Bruch im sakramentalen Zentrum der Kirche verbunden wird, wobei zur Änderung dieses Zentrums nicht nur die Umformung vom Herrenmahl zur Messe, sondern –damit verbunden– die Bildung des priesterlichen (bischöflichen) Amtes als Grundelement der neuen Gestalt von «Eucharistie» gehört. Obwohl Meßner von einem deutlichen Bruch in der Geschichte von Glaube und Liturgie ausgeht, will er doch das Neue nicht als Verrat am biblischen Zeugnis gewertet wissen (Seite 43ff.), sondern erkennt ihm –so wie es erstmals bei Hippolyt vorliegt– eine gewisse Normativität zu, an der er dann die Entwicklungen des Mittelalters, das Konzil von Trient und die Theologie Luthers mißt. Daß er dabei das Mittelalter und Trient im wesentlichen nur als Mißverständnis und Abstieg beurteilen kann, braucht nicht zu verwundern. Viel tiefer reicht die These des doppelten Bruchs in der Geschichte des Glaubens, der hier statuiert wird: zwischen Jesus und der charismatischen Urkirche zunächst, zwischen dieser und der frühkatholischen Kirche dann.