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Donnerstag, September 15, 2005

Warum Kirchhof provoziert

Welch eine Kombination! Da moderierte der Politikwissenschaftler (und Allroundexperte) Jürgen Falter eine Debatte mit dem Titel "Freiheit, die ich meine ..." und Paul Kirchhof, Karl Kardinal Lehmann, dem Jesuiten Friedhelm Hengsbach, der Vorsitzenden des Nationalen Ethikrates, Kristiane Weber-Hassemer, und Klaus Adam, dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Landesbank Rheinland-Pfalz.

Im Bericht der Tagespost steht natürlich Kirchhof im Vordergrund. Und es wird ein kleiner Zipfel der Strategie sichtbar, die offensichtlich mit seiner Finanzministerkandidatur verbunden war.
Wobei [...] die Argumentationsweise der beiden Seiten ein erhellendes Licht auf das warf, was in Deutschland zurzeit geschieht - und was erklärt, warum Paul Kirchhof, der Wissenschaftler, der in die Niederungen und die Weite der praktischen Politik wechseln soll, ein so helles Entsetzen unter den professionellen Politikern und den professionellen Wohlfahrtsbürgern auslöst.

Beispiel Familienpolitik: Pater Hengsbach führt den Fall der allein erziehenden Mütter an. Er zeige, wie in den vergangenen Jahren diese Gruppe finanziell und steuerrechtlich von der staatlichen Gesetzgebung und Politik "strukturell" diskriminiert worden sei. Kristiane Weber-Hassemer ergänzt dies aus ihrer Erfahrung als Strafrichterin im Bereich schwerer Kriminalität: Viele junge Familien könnten gar nicht verantwortlich ihre Freiheit gestalten, weil sie dazu ihrer Herkunft und Ausbildung nach gar nicht die Chance hätten, wie sie eben in diesen Strafrechtsprozessen ständig erfahren habe.
Dagegen Paul Kirchhof: "Ich nehme Sie, Frau Weber-Hassemer, ausdrücklich davon aus, aber ich sage immer: Gebt die Familienpolitik nicht in die Hände von Strafrichtern und Jugendpflegern, die kennen nur die Krise. Wir aber müssen Normativität und Normalität wieder zusammenbringen."
Will heißen: Nicht die Fälle des Misslingens von Freiheit dürfen zur Norm werden, an der Staat, gesellschaftliche Einrichtungen wie Kirchen oder Unternehmen ihr Handeln ausrichten, sondern Staat, Kirchen oder Unternehmen müssen Maßstäbe der Normalität und des gelingenden Gebrauchs von Freiheit definieren, an denen der Einzelne sich orientieren kann.
"Der Vater, der sich um seine Kinder kümmert, ist eben der Normalfall, und nicht umgekehrt, also muss das auch als Norm für die Gesetzgebung dienen und nicht umgekehrt", so Kirchhof.
Die Rede dürfe nicht so sehr von Freiheiten handeln, die dem Menschen zustehen, als davon, dass der Mensch seine Freiheitsrechte selbst wahrnehmen muss.

Genau hier liegt der Grund, warum Paul Kirchhof in Deutschland zurzeit entsprechend polarisiert: Die Menschen empfinden es nach Jahren der Bequemlichkeit und sozialpolitischen Wohltaten, mit denen sich die Politik Macht sicherte, als Zumutung, sich selbst an Normen zu messen und auszurichten, die sagen, wie der Einzelne moralisch richtig und gut leben soll. Dass alle gemeinsam gut und in Normalität leben können - was also der Einzelne für die Gemeinschaft tun kann und nicht, was der Staat für den Einzelnen zu tun hat - ist vor diesen Hintergrund für viele eine Provokation.
"Jeder hat das Recht, wie Diogenes in der Tonne zu leben. Wenn jeder wie Diogenes in der Tonne lebt, hat keiner ein Recht verletzt, aber der Staat geht zugrunde",
illustriert Kirchhof seine provozierende These, dass das Verhältnis von Normalität und Normativität stimmen muss und nicht die Ausnahme zur Norm gemacht werden kann.
Wer so argumentiert wie Kirchhof, muss natürlich ein stabiles Wertefundament haben und auch von anderen einfordern, sich auf eine solche Basis zu stellen. Mit anderen Worten: Er muss nicht nur akzeptieren, sondern offensiv vertreten, dass unser Grundgesetz auf dem Christentum ruht. Und sich gegen jene wenden, die einem mehr oder weniger militanten Laizismus das Wort reden.

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