Religio vera
Die Wahrheitsfrage hat uns in den letzten Tagen ausführlich beschäftigt. Eine Menge Hintergrund dazu bringt ein Vortrag, den Joseph Card. Ratzinger 1999 an der Pariser Sorbonne hielt. Auszüge:
Zunächst stellt sich immer mehr die Frage, ob der Begriff Wahrheit sinnvoller Weise überhaupt auf die Religion angewandt werden könne, mit anderen Worten, ob es dem Menschen gegeben ist, die eigentliche Wahrheit über Gott und die göttlichen Dinge zu erkennen. [...]
Das Christentum befindet sich für das heutige Denken keineswegs in einer positiveren Perspektive als die anderen – im Gegenteil: Mit seinem Wahrheitsanspruch scheint es besonders blind zu sein gegenüber der Grenze all unserer Erkenntnis des Göttlichen, durch einen besonders törichten Fanatismus gekennzeichnet, der das in eigener Erfahrung betastete Stück unbelehrbar für das Ganze erklärt. [...]
Augustinus identifiziert den biblischen Monotheismus mit den philosophischen Einsichten über den Grund der Welt, die sich in verschiedenen Variationen in der antiken Philosophie herausgebildet haben. Dies ist gemeint, wenn das Christentum seit der Areopag-Rede des heiligen Paulus mit dem Anspruch auftritt, die „religio vera“ zu sein. Das will sagen: Der christliche Glaube beruht nicht auf Poesie und Politik, diesen beiden großen Quellen der Religion; er beruht auf Erkenntnis. Er verehrt jenes Sein, das allem Existierenden zugrunde liegt, den „wirklichen Gott“. Im Christentum ist Aufklärung Religion geworden und nicht mehr ihr Gegenspieler. [...]
Rückschauend können wir sagen, dass die Kraft des Christentums, die es zur Weltreligion werden ließ, in seiner Synthese von Vernunft, Glaube und Leben bestand; genau diese Synthese ist in dem Wort von der „religio vera“ zusammenfassend ausgedrückt.
Umso mehr drängt sich die Frage auf: Warum überzeugt diese Synthese heute nicht mehr? Warum gelten heute im Gegenteil Aufklärung und Christentum als einander widersprechend, ja, ausschließend? Was hat sich an der Aufklärung, was am Christentum geändert, dass es so ist? [...]
Genau dies sagt heute die Aufklärung: Die Wahrheit als solche kennen wir nicht; in unterschiedlichen Bildern meinen wir doch dasselbe. Ein so großes Geheimnis, das Göttliche, kann nicht auf eine Gestalt festgelegt werden, die alle anderen ausschlösse – auf einen Weg. der alle verpflichtete. Der Wege sind viele, der Bilder viele, alle spiegeln etwas vom Ganzen, und keines ist selbst das Ganze. Dem gehört das Ethos der Toleranz zu, das in jedem ein Stück Wahrheit erkennt, das Eigene nicht höher stellt als das Fremde und sich friedvoll in die vielgestaltige Symphonie des ewig Unzugänglichen einfügt, das sich in Symbolen verhüllt, die doch unsere einzige Möglichkeit zu sein scheinen, irgendwie nach dem Göttlichen zu greifen.
Ist demnach der Anspruch des Christentums, „religio vera“ zu sein, durch den Fortgang der Aufklärung überholt? [...]
Es geht um die Frage, ob das Wirkliche aufgrund von Zufall und Notwendigkeit (oder mit Popper im Anschluss an Butler aus „luck“ und „cunning“, „glücklicher Zufall“ und „Voraussicht“), also aus dem Vernunftlosen entstanden ist, ob also die Vernunft ein zufälliges Nebenprodukt des Unvernünftigen und im Ozean des Unvernünftigen letztlich auch bedeutungslos ist, oder ob wahr bleibt, was die Grundüberzeugung des christlichen Glaubens und seiner Philosophie bildet: „In principio erat Verbum“ – am Anfang aller Dinge steht die schöpferische Kraft der Vernunft. Der christliche Glaube ist heute wie damals die Option für die Priorität der Vernunft und des Vernünftigen.
Diese Letztfrage kann nicht mehr, wie schon gesagt, durch naturwissenschaftliche Argumente entschieden werden, und auch das philosophische Denken stößt hier an seine Grenzen. In diesem Sinn gibt es eine letzte Beweisbarkeit der christlichen Grundoption nicht. Aber kann eigentlich die Vernunft auf die Priorität des Vernünftigen vor dem Unvernünftigen, auf die Uranfänglichkeit des Logos verzichten, ohne sich selbst aufzuheben? Das von Popper vorgeführte Erklärungsmodell, das in anderen Darstellungen der „ersten Philosophie“ in verschiedenen Variationen wiederkehrt, zeigt, dass die Vernunft gar nicht anders kann, als auch das Unvernünftige nach ihrem Maß, also vernünftig zu denken (Probleme lösen, Methode erlernen!), womit sie implizit doch wieder den eben geleugneten Primat der Vernunft aufrichtet. Durch seine Option für den Primat der Vernunft bleibt das Christentum auch heute „Aufklärung“, und ich denke, dass eine Aufklärung, die diese Option abstreift, allem Anschein zuwider nicht eine Evolution, sondern eine Involution der Aufklärung bedeuten müsste. [...]
Der Versuch, in dieser Krise der Menschheit dem Begriff des Christentums als „religio vera“ wieder einen einsichtigen Sinn zu geben, muss sozusagen auf Orthopraxie und Orthodoxie gleichermaßen setzen. Sein Inhalt wird heute – letztlich wie damals – im Tiefsten darin bestehen müssen, dass Liebe und Vernunft als die eigentlichen Grundpfeiler des Wirklichen zusammenfallen: Die wahre Vernunft ist die Liebe, und die Liebe ist die wahre Vernunft. In ihrer Einheit sind sie der wahre Grund und das Ziel alles Wirklichen.
3 Comments:
Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.
... ich würde sogar noch weiter gehen und sagen, dass ich, wenn ich denn alles richtig verstanden habe, mit allem einverstanden bin, da Joseph Ratzinger / Benedikt XVI hier stets vom Christentum und nicht explizit von der katholischen Kirche redet und die Begriffe "Aufklärung", "Vernunft" etc. sehr offenhält.
Und der abschließende Satz "Die wahre Vernunft ist die Liebe, und die Liebe ist die wahre Vernunft. In ihrer Einheit sind sie der wahre Grund und das Ziel alles Wirklichen" kann doch von allen Christen nur unterschrieben werden, schließt sie doch ganz im Sinne Jesu keinen Menschen von der Wahrheit aus - auch jene nicht, die eben nicht in der katholischen Kirche sind.
Aber so hat er es vermutlich dann doch wieder nicht gemeint, hm?
@anonym:
Ich würde Ratzinger hier nichts unterstellen - die katholische Kirche ist Nicht-Katholiken und auch Nicht-Christen gegenüber viel zugänglicher und offener, als es oft hingestellt wird.
Und zu Ratzingers Christentum-Verständnis: die katholische Kirche ist der Überzeugung, dass in der Apostolischen Tradition die ganze Fülle des christlichen Glaubens enthalten ist. Und sie denkt auch in Jahrhunderten, wenn nicht sogar in Jahrtausenden - und aus dieser Perspektive war die Reformation erst gestern... :-)
Kommentar veröffentlichen
<< Home