Kulturkrieg und Weihrauchhandelsmonopol
Sechs Tage vor der Wahl glossiert Matthias Matussek im Spiegel den Zeitgeist:
Im großen Ganzen [...] ist die linke Kritik reaktionär geworden. Sie meldet sich mit der Besitzstandsrhetorik Lafontaines oder gar nicht.
Linke Visionen sind nicht mehr kulturstiftend, wahrscheinlich, weil sie sich zu oft revidieren mussten. Wen reißt heute noch der Internationalismus vom Hocker, wenn er um seinen Arbeitsplatz gegen die Globalisierung kämpft? Wer begeistert sich noch für Multikulti, wenn in den muslimischen Ghettos westlicher Großstädte Frauen verprügelt und Bomben gebastelt werden?
Ja, wem hängt nicht der hedonistische Selbstverwirklichungszirkus der Geschlechter zum Halse raus, wenn der nur noch zertrümmerte Familien, allein gelassene Kinder, soziale Verrohungen anrichtet? Die Welt, sagt Hamlet, ist aus den Fugen.
Ab und zu melden sich noch ein paar Strategen der linken Intelligenz. Sie melden sich nun kurz vor Ende der rot-grünen Ära mit einem beleidigten Türenknallen, und man erschrickt: Huch, waren die etwa die ganze Zeit noch im Zimmer? [...]
Ein letzter Abend vor der Wahl. Kanzler Schröder und Angela Merkel fummeln sich in ihrem TV-Duell durch Steuermodelle und Benzinpreise und Kirchhofs Streichlisten. Die Verbesserung Deutschlands: eine Rechenaufgabe.
Doch plötzlich wird die Bilanzprosa durchbrochen von lyrischer Leidenschaft, von Beteuerungen, von nationalen Appellen. Plötzlich geht es nicht um Rechnungen, sondern um Kinderlosigkeit, um Lebensentwürfe, um Staat und Revolution, und darum ging es wahrscheinlich schon lange, ohne dass es den Beteiligten klar geworden wäre.
Plötzlich lodert der Kulturkrieg.
Die "konservativen Sehnsüchte" (Jürgen Busche), die sich an die Gestalt Kirchhofs knüpfen, haben eine lange Vorgeschichte. Es sollte auffallen, dass es seit Heiner Müllers Aufforderung aus der Wendezeit, die Fress-Etage des KaDeWe zu plündern (SPIEGEL 43/1989), keine einzige linke Polemik gab, die haften geblieben wäre.
Die bemerkenswerten Provokationen waren vielmehr kulturkonservativer Natur und gegen den linken Mainstream gerichtet. Botho Strauß' Aufruf zur Askese im "Bocksgesang", Sloterdijks "Menschenpark", auch Walsers melancholisch-störrischer Abschied von der Gedenkkultur.
Ab und zu schlägt noch die linke "Pranger-Philologie" ("Süddeutsche Zeitung") durch, doch solche Anfälle sind selten geworden, und sie können den gewandelten Grundton im Selbstgespräch der Deutschen nicht mehr überdecken. In den Büchern und Interviews Paul Noltes, in den Einwürfen Jürgen Busches, in den Essays Joachim Fests, im neuen Buch des Verfassungsrichters Udo Di Fabio ("Die Kultur der Freiheit") spricht sich ein konservatives Bürgertum aus, ein neues Besinnen auf Familie, auf Kirche, auf Vaterland. [...]
An jenem Abend 1990 spielte [Heiner Müller] mir das legendäre Radiostreitgespräch zwischen Gottfried Benn und Johannes R. Becher von 1930 noch einmal vor.
Becher wollte den Dichter als Kämpfer für eine bessere Welt, Benn sprach dagegen, resignativ, unbestechlich: "Die Unteren wollten immer hoch und die Oberen wollten nicht herunter, schaurige Welt, kapitalistische Welt, seit Ägypten den Weihrauchhandel monopolisierte." [Der Spiegel]
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