»Ja, Mitleid hatt' ich! Das hatt' ich immer, Mitleid und Erbarmen. Und vielleicht auch, daß meiner ein Erbarmen harrt, um meines Erbarmens willen. Ich kann es brauchen; jeder kann es. Und in der letzten Stunde tut es wohl, etwas von diesem Ankergrund zu haben... Ich entsinne mich eines langen Liedes, das ich in der Predigerstunde bei dem alten Oberkonsistorialrat lernen mußte; ich hatte keinen Sinn dafür, aber eine Strophe gefiel mir; die war schön.«
»Welche? Sprich sie, oder willst du, daß ich sie spreche?«
»Es war etwas von Tod und Sterben und von Christi Beistand in der Scheidestunde.«
Renate hatte seine Hand genommen und sprach jetzt, ohne weiter zu fragen, mit leiser, aber fester Stimme vor sich hin:
»Wenn ich einmal soll scheiden,
So scheide nicht von mir,
Soll ich den Tod erleiden,
Tritt du für mich herfür;
Wenn mir am allerbängsten
Wird um das Herze sein,
Reiß mich aus meinen Ängsten,
Kraft deiner Angst und Pein.«
Tubal hatte sich aufgerichtet.
»Ja, das ist es.«
Er schien noch weitersprechen zu wollen, sank aber, immer matter werdend, in die Kissen zurück und begann unruhig und hastig, wie die Sterbenden tun, an seiner Bettdecke herumzuzupfen. Dabei war es, als ob er in seiner Erinnerung nach etwas suche.
Endlich hatte er es und fuhr in abgerissenen Sätzen fort: »Es war noch früher, viel früher, und wir waren noch in der alten Kirche, da sagte mir der Kaplan ein lateinisches Lied vor. Und als Ostern herankam, da mußt' ich es hersagen vor meinem Vater und vor meiner Mutter und vor Graf Miekusch. Und meine Mutter lachte, weil sie das Lateinische nicht verstand. Aber mein Vater war ernst geworden und Graf Miekusch auch.«
Er schwieg eine Weile, und Renate sah bang auf ihn.
»Das ist nun zwanzig Jahre«, fuhr er fort, »oder noch länger, und ich hatt' es vergessen. Aber nun hab' ich es wieder:
Salve caput cruentatum
Totum spinis coronatum
Conquassatum, vulneratum
Facie sputis illita...«
Er hatte sich bei jeder neuen Zeile mehr und mehr erhoben und starrte mit einem Ausdruck, als ob er etwas sähe, auf den Wandpfeiler zu Füßen seines Bettes. Und ein Lächeln, in dem Schmerz und Erlösung miteinander kämpften, verklärte jetzt sein Gesicht.
»Kathinka hatte recht... aber nun ist es zu spät... Salve caput cruentatum...« Es waren seine letzten Worte.
Er sank in die Kissen zurück, und seine Augen schlossen sich für immer.
Theodor Fontane, Vor dem Sturm, Band IV, Kapitel 24